Die Grenzen der Luftkriegsführung zwingen die NATO zu Entscheidungen
29. Mai 1999
Zwei Monate nach Angriffsbeginn sind grosse Teile der serbischen Infrastruktur zerstört, die Armee empfindlich geschwächt.
Aber das Hauptziel, eine humanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhindern, Slobodan Milosevic zum Rückzug seiner Truppen zu zwingen und die Stationierung von internationalen Friedenstruppen zuzulassen, davon ist man noch weit entfernt – trotz einer ständigen Erhöhung der NATO-Kampfmittel.
Allied Force: starke Kampfkraft
Seit dem 24 März verdreifachten die Allierten die Anzahl ihrer Flugzeuge, von 350 auf über 1000. 6000 Kampfaufträge wurden ausgeführt, 16 000 Flugbewegungen durchgeführt. 14 200 Bomben wurden abgeworfen. Luftabwehrstellungen, Flugplätze, Kommandoposten, Nachschublinien, Industriezentren und Bodentruppen wurden angegriffen. Zudem wurden über 200 Cruise Missiles von Schiffen oder schweren Bombern abgefeuert.
Die Auswirkungen dieses Bombardements sind riesig. Die NATO gab am 19. Mai folgende Zahlen über die serbischen Verluste bekannt:
- 90% der serbischen Artillerie an der albanischen und mazedonischen Grenze
- 11 Kommandoposten von Brigaden oder Bataillonen
- 556 Ausrüstungsgegenstände in Kosovo, davon 312 Panzer, Artillerie und gepanzerte Fahrzeuge
- 75% der festinstallierten Boden-Luft Raketen
- 12% der mobilen Boden-Luft Raketen
- 80% von MiG-29 vergleichbaren Flugzeugen
- 30% der MiG-21
- 35% der Jagdbomber Galeb
- 70% der Helikopter und anderer Flugzeuge
- Die Mehrheit der Hauptstrassen, die Kosovo und Danube verbinden
- Sämtliche Ölraffinierieanlagen.
Diese Bilanz scheint im Vergleich zu den eingesetzten Mitteln als kohärent, selber hatten die Allierten nur minimale Verluste: 2 gefallene Piloten, 1 Stealthbomber F-117 Nighthawk, 1 Jäger F-16C Fighting Falcon, 1 Jagdbomber AV-8 Harrier, 2 Kampfhelikopter AH-64 Apache und ein Dutzend Drohnen.
Zusammenarbeit von 13 Nationen
Die allierte Kriegsmaschinerie, welche das erste Mal Kampfaufträge ausführt, zeigte ihre ganze technische Überlegenheit. Eine Zusammenarbeit von 13 Nationen, welche in eine Kommmandokette eingebunden sind. Problemlos werden jeden Tag 700 Einsätze geflogen, dies nebst hunderten von anderen Einsätzen, zum Beispiel Allied Harbor (Humanitärer Assistenzdienst in Albanien)
Die Befehlskette funktioniert wie folgt: Die gesamten Aufklärungs- und Beobachtungsmittel der Allierten – Drohnen, Flugzeuge, Satelliten, Bodenbeobachtungsmittel werden – zum Teil in Real-time – zum Teil über nationale Strukturen ins Kommandozentrum der Luftoperationen in Vincenza übermittelt. Dort werden neue Ziele zur Bombardierung ausgewählt, der Luftraum eingeteilt und der Nachschub organisiert, danach gehen die Befehle an die diversen Flugplätze der Allierten. Nach einer minutiösen Vorbereitung, welche manchmal mehrere Stunden dauert, starten die Flugzeuge. Zurück werden die Bordaufnahmen ausgewertet und nach Vincenza übermittelt.
Kein "real-time targeting"
Der ganze Ablauf, von der Aufklärung bis zum Einsatz, vor allem wenn er strategische Entscheide verlangt, dauert mindestens 24 Stunden, oft mehrere Tage, je nach eingesetzten Flugzeugen und meteorologischen Bedingungen. Für taktische Ziele ist der Zeitrahmen sekundär, eine Vernichtung innert 3 – 4 Stunden ist jedoch unmöglich. Natürlich gilt dieser Zeitrahmen nicht für Erdkampfflugzeuge, welche sich auf der "search and destroy" Patrouille befinden.
Trotz High-Tech-Apparaten verfügen die Allierten, auch die Amerikaner, nicht über die Mittel, um ein "real-time targeting" durchzuführen. Dies würde heissen, dass aufgeklärte Ziel sofort angegriffen werden könnten. Dies würde aber ein Netz verlangen, welches erlaubt, Informationen von der Quelle direkt ins Cockpit eines Kampfflugzeuges oder in das GPS einer Cruise Missile zu senden. Vor allem aber Aufklärungsmittel, welche wie die AWACS in der Luft, am Boden aufklären könnten. Es mangelt aber an Satelliten und an Flugzeugen, welche das zerklüftete Gelände von Jugoslawien effektiv mit Bodenradar aufklären können.
Serbien: grosse Zerstörungen
Den Schwierigkeiten zum Trotz, zeigen sich in Serbien langsam die immensen Schäden. Die Wirtschaft befindet sich auf dem Niveau von 1945, die Industrie wurde komplett zerstört, das internationale Embargo zeigt seine Wirkung. Zudem erleidet die Armee grosse Verluste, trotz gegenteiligen Meldungen aus Belgrad. Bereits sollen Hunderte von jugoslawischen Soldaten geflüchtet sein. Einige lokale Behörden kritisieren, dass die jugoslawische Armee ihre Kampfmittel in dichtbevölkerte urbane Zonen verlegt.
Zwei Monate nach Beginn der allierten Offensive scheint von dem bedingungslosen Vertrauen der jugoslawischen Bevölkerung in ihren Führer nicht mehr viel übrig zu sein. In Serbien gibt es ständig Kämpfe zwischen serbischen paramilitärischen Einheiten und der UCK. Jugoslawische Truppenkonzentrationen werden von der Nato sofort bekämpft. Obwohl keine serbischen Zahlen über die Verluste existieren, scheint die Bundesarmee erheblich an Kampfkraft eingebüsst zu haben.
Risse in der Allianz
Die Risse in der Koalition gehen durch jene NATO-Länder, welche an der Operation beteiligt sind. Und zwar zwischen Befürwortern einer Bodenoffensive, jenen die die Luftangriffe fortsetzen wollen und jenen, die eine Feuerpause wollen. Vor allem aber die vom serbischen Regime gefilmten Zerstörungen, welche von westlichen Medien weiterverbreitet werden, zeigen ihre Wirkung. Vor allem nach dem Motto: "Noch ein Fehlschlag der NATO".
Die NATO machte rund zehn Fehler, welche nach Angaben aus Belgrad rund 300 Zivilisten das Leben kostete. Dabei war die Zerstörung der chinesischen Botschaft nicht das grösste Missgeschick. Tödliche Bombardamente wie jenes von Korisa, welches 80 Opfer forderte, wurden von der NATO zwar zugegeben, aber mit Attacken auf "militärische Ziele" begründet. Wegen der Abwesenheit von unabhängigen Beobachtern, ist die Schuldfrage aber oft fraglich.
Eine unheimliche Präzision
All die Fehlschläge sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, mit welcher Präzision die Allianz ihre Ziele trifft. Die Cruise Missiles und gelenkten Bomben verfehlten rund 100 Mal ihr Ziel. 100 Bomben auf 14200. 20 misslungene Bombardierungen auf 6000. Auch ohne die genaue Zahl der wirkungslosen Angriffe auf militärische Ziele zu kennen, beläuft sich die auf Grund technischer Probleme fehlgeschlagenen Angriffe auf rund 1 bis 2 Prozent, eine ausgesprochen tiefe Rate.
Lässt man die fehlgeschlagenen Angriffe aufgrund technischer Mängel und schlechter Informationen weg, zeigt sich eine unheimliche Präzision. Die Allianz kann selbst in dichtbevölkerten Gebieten die gewünschten Gebäude zerstören, ohne dass das ganze Quartier in Schutt und Asche gelegt wird. Diese Präzision erlaubt, die zivilen Opfer möglichst klein zu halten. Sie steht in einem scharfen Kontrast zu früheren Kriegen, wo mit "dummen Bomben" riesige ungewollte Zerstörungen angerichtet wurden.
Ein Krieg der unheimlichen Bilder
Die NATO ist auf den Bildschirmen im Westen weit weniger präsent als über dem jugoslawischen Himmel. Die NATO kann auch nichts anderes zeigen, als mit Bordkameras geschossene Bilder von einschlagenden Präzisionswaffen. Jugoslawien hingegen zeigt aufwühlende Bilder von Opfern und Zerstörungen, Worte sind dabei sekundär.
Als Gegengewicht zeigen die westlichen Medien unglaubliche Bilder aus den Flüchtlingslagern in Albanien und Mazedonien. Obwohl der Einsatz der NATO diese menschliche Katastrophe eigentlich verhindern wollte, geschah das Unglaubliche. Die NATO veröffentlichte folgende Zahlen:
- 804 000 Kosovo-Albaner befinden sich heute in Nachbarländern auf dem Balkan
- 170 000 Kosovo-Albaner wurden in anderen Ländern auf der Welt aufgenommen
- 580 000 Personen wurden innerhalb des Kosovo vertrieben
- 130 000 Personen befinden sich noch in ihren Ortschaften im Kosovo
- 1 600 000 Personen im Total mussten seit Beginn des Konflikts ihre Häuser verlassen
Allied Force: Eine durchzogene Bilanz
Nach zwei Monaten ist die Bilanz der Allierten Streitkräfte durchzogen. Die humanitäre Katastrophe, ausgelöst von Slobodan Milosevic konnte weder verhindert werden, noch zog er seine Truppen aus den Kosovo zurück. Die Stationierung einer Internationalen Friedenstruppe wurde auch nicht erreicht. Trotz allem, die enormen Schäden an Infrastruktur und die Verluste der jugoslawischen Armee lassen eine baldige Entscheidung erwarten. Aber ist sie mit der jetzigen Strategie erreichbar?
Der Konflikt kann drei mögliche Wendungen nehmen:
- Belgrad akzepiert die internationalen Konditionen. Die serbischen Truppen werden aus dem Kosovo zurückgezogen, die Luftangriffe eingestellt. Dies wäre das Idealszenario für die NATO, welche danach sofort eine Friedenstrupppe in den Kosovo schicken würde.
- Belgrad weigert sich weiterhin, die eine internationale Friedenstruppe im Kosovo zuzulassen. Die jetzige serbische Strategie, sich Bodentruppen mit allen Mitteln zu erweren, würde fortgeführt. Die allierten Truppen würde dazu gezwungen, den Kosovo militärisch zu befreien, um nicht eine Niederlage eingestehen zu müssen.
- Belgrad wählt den Mittelweg, der von den G8 vogeschlagen wurde. Es würden Truppen unter UNO-Führung im Kosovo stationiert, welche international breit abgestütz wäre, und nicht nur aus NATO Einheiten bestehen würde.
Wie der Konflikt endet, ist heute noch alles andere als sicher.
Am Scheideweg
Falls Slobodan Milosevic hart bleibt und die NATO den Druck aufrecht erhält, risikiert er nicht nur eine grosse Konfrotation mit einer immer stärker werdenden UCK, sondern auch mit Serben, welche der Zerstörung von Hab und Gut nicht länger zusehen wollen. Ein Sturz des Regimes könnte aber nicht nur Jugoslawien in den Abgrund stürzen. Der ganze Balkan könnte in Bewegung geraten, mit unabsehbaren Folgen.
Aber auch für die NATO drängen sich einige Entscheidungen auf. Die Divergenzen zwischen den Verbündeten werden immer grösser. Bald sind die strategischen Ziele zerstört und die Bundesarmee hat all ihr schweres Material verloren , worauf konzentrieren sich dann die Flugzeuge?
Langsam erscheint als einzige Option der Einsatz von Bodentruppen. Dieser Einsatz muss aber unbedingt vor dem ersten Schneefall im bergreichen Kosovo abgeschlossen sein. Deshalb muss bis Mitte Juni eine Entscheidung gefällt werden.
Zwei Monate nach Kriegsbeginn scheinen beide Parteien am Scheideweg zu stehen, für welchen Weg sie sich entscheiden ist noch offen.
Oblt Ludovic Monnerat & Lt Adrian Muller
Quellen
AP, AFP, Reuters, NATO
Verbundene Seiten
Aktuell | Armee | Schweiz | Welt | Forum | Direkt | Material | Geschichte | Archive | Tätigkeit | Links
Empfang | Neuigkeiten | Mitglieder | Zwecke | Stütze | E-mail
© 1999 CheckPoint
Weiterverwendungen von jeglichen Auszügen nur mit Quellenangabe und Erwähnung des Autors